Tagesanzeiger vom 02.10.17

Gesundheitsdirektor Thomas Heiniger (FDP) will den Spitälern vorschreiben, wie viele Operationen ihre Ärzte machen müssen. Zehn Regionalspitäler reichen dagegen Beschwerde ein.

Der Zürcher Gesundheitsdirektor ist ein Vorreiter bei der Einführung von Mindestfallzahlen. Schon 2012 hatte er Vorgaben für eine Reihe von Bauchoperationen verfügt. Mit der Folge, dass einige Regionalspitäler heute keine Speiseröhrenoperationen oder keine Eingriffe am tiefen Enddarm mehr durchführen. Der Freisinnige Thomas Heiniger kann sich dabei auf einen Konsens in der Schweizer Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK) stützen, deren Präsident er ist. Die GDK bemüht sich seit langem, Eingriffe der hoch spezialisierten Medizin an wenigen Standorten zu konzentrieren – mit mehr oder weniger Erfolg. Das Argument dahinter: Wenn ein Team einen schwierigen Eingriff zehnmal im Jahr ausführt, wird das Resultat ziemlich sicher besser sein, als wenn es ihn nur einmal macht und deshalb keinerlei Routine hat.

Im Grundsatz sind sich darin alle einig. Umstritten ist hingegen, welche Eingriffe noch als spezialisiert gelten können und welche zur Grundversorgung gehören. Heiniger hat jetzt diese Grenze neu gesetzt, indem er auch den Ersatz von Knie- und Hüftgelenken und die Entfernung von Brusttumoren reglementiert – alles Operationen, die im Kanton Zürich jährlich tausendfach durchgeführt werden. Für die Gelenkprothesen soll ab nächstem Jahr eine Mindestfallzahl von je 50 gelten, für Brustkrebsoperationen 100.

Gefahr von Fehlanreizen

Zusätzlich zu den Mindestfallzahlen pro Spital verlangt die Gesundheitsdirektion ab 2019 auch von den Chirurgen eine minimale Anzahl an Eingriffen: Damit ein Chirurg weiterhin Brusttumoren operieren darf, muss er in einem Jahr mindestens 30 gemacht haben, bei den Gelenkprothesen müssen es je 15 sein. Zudem gibt es neu auch für die gynäkologischen Tumoren Mindestfallzahlen: 20 sowohl pro Spital als auch pro Chirurg. Der Regierungsrat hat auf Antrag von Thomas Heiniger die Spitalliste kürzlich entsprechend geändert.

Die Vorgaben pro Arzt oder Ärztin sind gänzlich neu. Sie stossen auf heftige Ablehnung. Und das nicht nur in den kleinen Spitälern, deren Leistungsangebot dadurch geschmälert wird. Auch grosse Spitäler wie das Triemli kritisieren sie. «Mindestfallzahlen pro Operateur sind nicht nötig, der Kanton hat kein Qualitätsproblem», sagt Andreas Zollinger, ärztlicher Direktor des Triemli. Er warnt vor einem falschen Anreiz: «Wenn man Mengen so vorschreibt, besteht die Gefahr, dass ein Arzt versucht, diese Menge zu erreichen, und deshalb mehr als nötig operiert.»

Zollinger stellt die Mindestfallzahlen pro Spital und für hoch spezialisierte Eingriffe nicht infrage. «Es ist richtig, dass man komplexe Eingriffe konzentriert.» Bisher habe die Gesundheits­direktion dies durchaus vernünftig gemacht. Doch jetzt gehe sie zu weit. Für Zollinger ist es erstaunlich, «dass wir ausgerechnet mit einem freisinnigen Gesundheitsdirektor eine solche Regeldichte erfahren».

Lebenserfahrung zählt nicht

Der Spitaldirektor von Bülach, Rolf Gilgen, konstatiert ebenfalls eine Zunahme der Bürokratie unter Heiniger. Er wird noch deutlicher und spricht von «Regulierungswut». Die Mindestfallzahlen pro Operateur sind aus seiner Sicht nicht praktikabel. Gilgen illustriert dies an einem denkbaren Beispiel: Der leitende Arzt, der im Spital die meisten Hüftprothesen operiert und dabei die besten Resultate erzielt, macht ein längeres Sabbatical – so erfüllt er die Vorgabe nicht mehr. Oder eine neue Chefärztin, die in ihrer Karriere Hunderte von Brustkrebstumoren entfernt hat, kommt am Regionalspital nur noch auf 20 pro Jahr – und müsste damit aufhören, obwohl sie von allen die grösste Erfahrung hat. Vielleicht wechselt sie unter diesen Bedingungen aber gar nicht erst in die Provinz, sondern bleibt lieber im Zentrumsspital. Die Chancen der Regionalspitäler, gute Chefärzte für sich zu gewinnen, sinken. Und das, konstatiert Gilgen, könne doch eigentlich nicht im Interesse des Kantons sein, denn die Regionalspitäler bilden auch viele Assistenzärzte aus. Ihre Ausbildungsrolle wird in Zukunft sogar noch grösser werden, weil die Universität die Zahl der Medizinstudienplätze erhöht hat.

Von den neuen Mindestfallzahlen konkret betroffen ist zum Beispiel das Spital Zollikerberg. Um eine 24-Stunden-Versorgung zu gewährleisten, braucht es in der gynäkologischen Tumorchirurgie mindestens zwei Operateure. Müssten diese je 20 Eingriffe vornehmen, brauchte das Spital 40 Fälle pro Jahr. Diese Zahl sei unverhältnismässig, findet Spitaldirektorin Orsola Vettori und zieht den Vergleich mit der Herzchirurgie: «Dort verlangt der Kanton bloss 10 Fälle.» Sie habe nichts gegen Vorgaben, wenn damit erwiesenermassen eine höhere Qualität erreicht werde, sagt Vettori. «In der Tumorgynäkologie gibt es diese Evidenz aber nicht.»

«Gegen Treu und Glauben»

Das Spital Zollikerberg wehrt sich juristisch, und dabei ist es nicht allein. Zehn Regionalspitäler haben sich zu einer Interessengemeinschaft zusammengeschlossen und erheben beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde gegen die Änderung der Spitalliste. Der Regierungsrat verstosse gegen Treu und Glauben, indem er die Regeln während des Spiels ändere, schreiben sie. Denn ihre Planung beruhe auf Vereinbarungen, die bis ins Jahr 2020 gültig seien. Die kurzfristige Anpassung untergrabe ihre Planungs- und Investitionssicherheit so- wie ihre Wettbewerbsfähigkeit. Zudem werde das Gesundheitssystem des Kantons Zürich verteuert; die gleiche Operation kostet nämlich im Unispital mehr als im Regionalspital.

Zur Interessengemeinschaft gehören die Spitäler Limmattal, Bülach, Uster, Wetzikon, Zollikerberg, Männedorf, Affoltern, Paracelsus, das See-Spital und die Limmatklinik. Zusätzlich zur Grundsatzbeschwerde haben sie teilweise auch Einzelbeschwerden ans Bundesverwaltungsgericht eingereicht, mit denen sie sich gegen Mindestfallzahlen in den einzelnen Fachgebieten wehren.

Patientenschützerin für Strenge

Im Gegensatz zu den Betroffenen begrüsst die Leiterin der Patientenstelle, Erika Ziltener, die verschärften Regeln. Mindestfallzahlen pro Chirurg seien sinnvoll, sagt sie. Allerdings sei es damit nicht getan. Das ganze Team müsse gut sein, auch die Vor- und die Nachbehandlung seien sehr wichtig.

Das will die Gesundheitsdirektion sicherstellen, indem sie unter anderem für die Behandlung von Brustkrebs nur noch zertifizierte Brustzentren zulässt. Gesundheitsdirektor Thomas Heiniger lässt die Kritik der Regionalspitäler nicht gelten. Die Mindestfallzahlen pro Operateur hätten keine Auswirkungen auf die Bürokratie, schreibt er, ohne weiter darauf einzugehen. In der vorgesehenen Form führten sie auch nicht zu Spitalkonzentrationen. Und falls Spitäler und Ärzte unnötige Eingriffe zum Nachteil der Patienten vornehmen würden, nur um die nötigen Fallzahlen zu erreichen, werde der Kanton dem mit einem Qualitätscontrolling entgegenwirken. Dieses werde nun mit Fachärzten aufgebaut und «streng umgesetzt».

Der Freisinnige ist sich bewusst, dass seine Spitalplanung über die hoch spezialisierte Medizin hinausgeht. Doch: «Mindestfallzahlen und damit der Ausschluss von Gelegenheitsoperationen machen unabhängig vom Grad der Komplexität eines Eingriffes Sinn.»